Zeitgeist-Interview: Über die Sehnsucht nach dem Garten Eden 2.0
Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin und Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz über das, was uns aktuell beschäftigt, wie es überhaupt dazu kommen konnte und was das für unser Zuhause bedeutet.
Frau Fratz, wie definieren Sie Zeitgeist?
Für mich ist er der Geist des ewigen Wandels. Ich verstehe ihn als einen Versuch, etwas heilsam zu verändern, angetrieben von der kollektiven Sehnsucht nach Zugehörigkeit und nach dem Gefühl von Ganzheit. Der Zeitgeist bietet Orientierung, der wir uns freiwillig verpflichten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Er ist ein temporäres Versprechen für ein gelingendes Leben. Mit diesem Versprechen richten wir unsere Wohnungen ein, suchen unsere Partner aus, erziehen unsere Kinder, planen Urlaube und die berufliche Zukunft.
Was genau meinen Sie mit Ganzheit?
Wir leben lange mit Trennungen, die uns von den gesellschaftlichen Richtlinien vorgegeben werden. Etwa die Trennung von Beruf und Familie, die Trennung von Männern und Frauen oder die Trennung von gesundem Essen und leckerem Essen. Eine Weile machen wir das mit, weil wir denken: „So gehört es eben“. Doch in der Enge meldet sich dann irgendwann diese Sehnsucht, Dinge zu erneuern, die nicht mehr passen und zu verbinden, was zusammenstrebt. Darauf reagiert der Geist der Zeit, der uns mit neuen Versprechungen lockt und uns Vorstellungskraft und eine andere Perspektive schenkt.
„Es gibt keinen Zustand, der sich lohnt, dass er für immer bleibt. Das wäre der Untergang. Wir würden aufhören, uns zu entwickeln.“
Welche Sehnsucht treibt uns momentan an, wenn wir das Wohnzimmer auf die Terrasse verlagern oder uns im Haus mit Unmengen von Grünpflanzen umgeben?
Es ist die Sehnsucht nach Natur, von der wir so lange innerlich getrennt waren. Besonders in Bezug auf die aktuelle Situation ist es die Sehnsucht nach einem Gefühl, dem wir vertrauen können. Es ist ein eindeutiges Gefühl, was wir in der Natur bekommen. Und ich glaube, durch die Pandemie trauen wir unseren Gefühlen nicht mehr. Wir erleben so viel individuell und kollektiv gleichsam und es ist mittlerweile so schwer für uns, das auseinanderzuhalten. Viele Leute denken, sie seien persönlich gescheitert, obwohl sie gar keine Schuld trifft. Sie meinen, sie müssten die Situation mit Homeoffice, Homeschooling etc. besser meistern, sie hätten versagt. Es ist ja oft so, dass wir meinen, wir hätten versagt, obwohl wir es mit einem kollektiven Problem zu tun haben. Und ich glaube, wir versuchen momentan und zu Hause einen Erholungsort für ein eindeutiges Gefühl zu erschaffen. Ein eindeutig gutes Gefühl natürlich.
Warum waren wir denn überhaupt von der Natur getrennt, haben sie sogar kaputt gemacht?
Beim Zeitgeist braucht es immer Entwicklungsgroßzügigkeit. Da gibt es kein entweder, oder. Der Zeitgeist, der uns von der Natur getrennt hat, den haben die Menschen damals auch als Verheißung empfunden. Der ist auch auf einer Sehnsucht aufgesessen.
Was ist der Unterschied zwischen Zeitgeist und Trends?
Trends sind manifestierter Zeitgeist. Der Zeitgeist steht am Anfang als reines Potenzial, wie man Gesellschaft in Zukunft gestalten könnte. Später zerfällt er in Trends in den verschiedenen Lebensbereichen und beginnt sich dort zu manifestieren. Geht die Dynamik weiter, wird das System immer fester und die Gesellschaft droht darin irgendwann zu erstarren. Dann ist neuer Zeitgeist gefragt, neue Sehnsucht entsteht. Alles, was die Kultur verwirft, kommt irgendwann modifiziert und mit frischer Hoffnung aufgeladen zurück. Dieses universelle Prinzip findet man in sämtlichen alten Philosophien und Religionen wieder. Ich habe das Rad nicht neu erfunden. Aber der Zeitgeist funktioniert genau so. Und wenn man das erkennt, kann man mit Zeitgeist anders arbeiten, als mit Trends.
In einem Gespräch mit dem Theologen Dr. Andreas Loos haben Sie mal gesagt: Bei der Betrachtung des Wirkens von Zeitgeist und Heiligem Geist falle auf, dass die beiden gar nicht so unterschiedlich agieren. Beide würden an verfestigten Strukturen des Systems rütteln, die das Leben hindern statt zu fördern. Ist es also am Ende die Sehnsucht nach dem Garten Eden 2.0. die uns gerade antreibt?
Ja, vielleicht könnte man das so sehen. Zumal ja auch ganz viel Sehnsucht nach der Verbindung mit anderen darin steckt. Denn wir möchten den Naturgenuss ja teilen und mit anderen in Kontakt sein. Zuletzt haben wir das eindrücklich gesehen, als die Menschen von ihren Balkonen aus miteinander gesungen haben. Der Balkon ist ja nicht nur die Verbindung mit der Natur, sondern auch mit den Nachbarn.
Also ist der Balkon Naturgenuss und Socializing?
Ja. Auch, was Besuch angeht. Mit Besuch auf dem Balkon zu sitzen ist ja ein anderes Statement als beispielsweise in der Küche.
Warum?
Es ist eine andere Einladung zu verweilen, indem man die Umwelt miteinander teilt. Man teilt diese Sehnsucht nach Verbundenheit mit der Natur, also ein Gefühl. In der Küche teilt man Genuss und Rezepte – das ist eine andere Innigkeit. Der Raum draußen ist eine Art Zwischenraum. Da ist die Kulisse nicht das Private, sondern die Stadt oder der Himmel oder der Park und ein bisschen was Privates. Man sitzt auf einer privaten Insel, hat aber als Kulisse die Umwelt. Diese Zwischenzone machen wir jetzt zunehmend einladend. Balkone und Terrassen sehen immer mehr wie Wohn- oder Esszimmer aus – nur quasi mit offenem Schiebedach. Aber im Grunde ist es ein öffentlicher Raum, den man sich ein Stück weit nimmt und gestaltet. Wir machen den Ort einladend und kreieren so für unsere Sehnsucht nach Verbundenheit mit der Natur und mit unseren Nächsten eine Heimat. Das ist ein neuer kultureller Weg.
Also macht man sich gemeinsam durchlässig für das Draußen?
Ja. Und das ist ja auch beim Picknick so oder im Café unter freiem Himmel. Man lässt sich gemeinsam auf die Stimmung ein – das positive Gefühl, von dem man erfasst wird. Wie unsere Bank hier am Kanal. Da hat ja auch ein anderes Flair als eine Bank am Straßenrand. (Anm. d. Red.: Das Gespräch fand auf einer Bank am Hamburger Isebek-Kanal statt.)
Und wie ist es im Wintergarten?
Der ist ja sozusagen die ständige Vertretung der Natur. Den hat es immer schon gegeben. Besonders in unseren Breiten. Auch diese Zwischenzone wird immer mehr gestaltet und bekommt zunehmend Designwert. Viele Outdoormöbel sind heute aus wetterfesten Materialien gemacht, aber gleichzeitig so gestaltet, dass sie auch perfekt in der Wohnung oder eben im Wintergarten funktionieren. Und wenn man sich entscheidet: „Ich arbeite von zu Hause und gehe dafür heute in den Wintergarten“, dann ist das auch eine Verabredung mit einer besonderen Stimmung. Wir verabreden uns mit dieser besonderen Stimmung, wenn wir rausgehen. Und wenn wir unseren Balkon, die Terrasse oder den Wintergarten gestalten, gestalten wir die Option, uns mit dieser Stimmung zu verabreden. Zeitgeist is powered bei longing!
Interview: Ulrike Wilhelmi
Auszüge aus diesem Gespräch erschienen erstmals in DECO HOME Ausgabe 2/21